Reinhard Knodt: Atmosphären und Orte
Grundlage des folgenden Aufsatzes ist meine Rede zur Ausstellungseröffnung am 22.Oktober 2009
1. Ort: Medienhaus Hannover „Lange Laube 8“ / Galerie
Sehr geehrte Damen und Herren,
Dass ich Ihnen hier von Nutzen sein kann, ist zum Glück nicht meine Idee, denn ich bin natürlich etwas im Zweifel, ob das Experiment, zu dem ich aufgefordert wurde, gelingt. Ich wünsche es natürlich! Das Experimentelle der Situation besteht darin, dass ich hier nicht über die künstlerischen Exponate sprechen soll, sondern über die drei Räume, in denen die Ausstellung stattfindet, genauer, über deren Atmosphäre.
Dazu möchte ich Ihnen zunächst von einer Installation berichten, die ich einmal bei einer studentischen Kunstaktion sah. Dort waren an der Decke der Galerie – etwa einen halben Meter über den Köpfen des Publikums – Fäden gespannt, an denen Hunderte von Rasierklingen mit der Schneide nach unten hingen. Man lief gewissermaßen ständig unter diesen Schneiden. Dass man dies irgendwie „spürte“, ist wohl nachvollziehbar, obwohl wir uns natürlich fragen müssen, was man da eigentlich spürte. Behelfen wir uns einstweilen mit dem Hinweis, dass diese Klingen, oder das, was von ihnen ausging, die Atmosphäre der Ausstellung beeinflusste.
Atmosphäre heißt ins Deutsche übersetzt Atemkreis. Jeder Gegenstand hat solch einen Atemkreis, also einen „Hauch“, der von ihm auszugehen scheint. Gelegentlich scheint es, „spüren“ wir ihn deutlich – wie etwa im Fall der Rasierklingen oder eines Altarkreuzes oder einer im Nebenzimmer aufgebarten Leiche – in anderen Fällen ist dieser Hauch nicht deutlich präsent, vor allem, wenn er von allerlei anderen Eindrücken überlagert wird. Wir versuchen auch umgangssprachlich für die Atmosphäre (n), die wir zu spüren meinen, Namen zu finden. Wir sagen etwa, es herrsche eine kühle Atmosphäre, oder ein Mensch verbreite eine hektische Atmosphäre. Bei manchen Kunstwerkbeschreibungen oder Situationen reden wir auch von einer „dichten“ Atmosphäre, usw. Wir wissen auch, dass es auf „Atmosphäre“ oft ankommt, dass sie etwa ein Gespräch entscheiden oder eine Absicht vereiteln kann.
Trotz all dem halten wir aber Atmosphäre dennoch nach wie vor eher für etwas wie ein Drumherum, ja sogar für etwas Zweitrangiges gegenüber den im Vordergrund stehenden sachlichen oder scheinbar wichtigeren Fragen einer Situation, was aber vielleicht ein grandioser Irrtum ist, denn es könnte ja sein, dass sich zum Beispiel das Atmosphärische einer Situation gewissermaßen nach und nach durchsetzt, obwohl ihr sachlicher Anteil zunächst im Vordergrund steht.
Ihre hier ausgestellten Arbeiten befinden sich also nicht etwa einfach in einem frisch renovierten Ausstellungsraum. Sie befinden sich vielmehr zugleich in einer Atmosphäre. Jetzt etwa herrscht hier eine Atmosphäre, die der genauen Betrachtung ihrer Arbeiten überhaupt nicht günstig ist. – Sie können von Glück sagen, wenn in dieser Atmosphäre, die ja vor allem durch Menschen geprägt ist – Ihre Arbeiten überhaupt zur Geltung kommen. Weiterhin kommt zwischen dem architektonischen Raum – also etwa dieser frisch renovierten Galerie – und Ihren Arbeiten ein atmosphärisches Spiel zustande; und es ist oft genug die Frage, ob eine künstlerische Arbeit gegenüber einem architektonischen Raum bestehen kann. In einer Kirche als einem atmosphärisch stark aufgeladenen Raum werden Sie große Probleme haben, bildende Kunst zur Geltung zu bringen. Hier ist es ganz anders, böse Zungen behaupten, in solch einem Raum würde selbst das aller Wertloseste noch wertvoll wirken.
Nun aber noch zu etwas Anderem – Was mir an Ihrer Ausstellung zunächst auffiel, war der atmosphärische Gegensatz zwischen diesem Raum und Ihrer Ausstellungsankündigung. Wir stehen hier in einer schier klassischen „White Cube – Situation“ – also einem Raum, in dem sämtliche Zufälligkeiten und Zeichen bis hin zu der Atmosphäre, die vielleicht von den Beleuchtungskörpern ausgehen könnte, sorgfältig ausgelöscht wurden. Ihre Ausstellungsankündigung hingegen – strömt durch die Gestaltung des Plakats, der Einladungskarten (eine Schultafel, auf die mit Tafelkreide geschrieben steht: „Lebenslänglich(e) Auseinandersetzung mit Wirklichkeit“) einen atmosphärischen Hauch aus, der mit der Atmosphäre eines „Medienhauses“ und deren Galerie wohl eher in Kontrast steht. Wir assoziieren Schulstubenluft, Kreidestaub. Dazu tritt noch die Assoziation von Gefangenschaft und Strafe („Lebenslänglich“).
Auf der einen Seite also das „MEDIEN“- Zentrum Hannover als atmosphärische Inkarnation aller zeitgenössischen technischen Informations- Schreib- und Leswirklichkeit, die Erinnerung an Bildschirme, edles Design und glatte Oberflächen – und auf der anderen Seite ein Stück quietschende Kreide auf einer alten Schultafel. Künstler haben Instinkt für atmosphärische Wirkung von Gegenständen, Räumen, Zeichen oder Gesten. Sie wissen – und sie arbeiten damit – dass jeder Gegenstand – eine Schultafel, ein Stück Kreide, ein Raum, eine Lampe, ein Mensch – jenen spürbaren Hauch hat, weswegen Heraklit übrigens einmal von der Witterung als der Haupteigenschaft der Philosophen sprach, und weswegen auch das Wappentier der Philosophen der Hund ist, das Tier mit der großen Nase. Sie kennen vielleicht Benjamins Aufsatz über den Flaneur, den er mit einem streunenden Hund verglich. – Dies aber nur nebenbei, damit Sie sehen, dass Künstler und Philosophen etwas gemeinsam haben…
Lebenslanges „Wittern“ der Wirklichkeit also, das heißt, wir sollen uns mit der Wirklichkeit nicht nur „auseinandersetzen“ (und Subjekt-Objektbeziehungen schaffen). Wir sollen auch ästhetisch sensibel sein, also gewissermaßen ahnungsvoll, ja gewissermaßen scheinbar unvernünftig an die Wirklichkeit herangehen. Wir sollen ihre atmosphärischen Eigenschaften und Möglichkeiten spüren und auszudrücken versuchen. Deswegen sind wir keineswegs irrational – ganz im Gegenteil! Denn wir lassen dadurch erkennen, dass die Wirklichkeit zu allem Berechenbaren immer noch ein zusätzliches, atmosphärisches Potential enthält, dessen Erfahrung (aisthesis) nur Narren vernachlässigen würden, wobei ich allerdings anmerken möchte, dass in unserer Gesellschaft sehr viel Vernachlässigung dieser Art Gang und Gäbe ist, vor allem in den Chefetagen, in denen man, je weiter man nach oben kommt, den Eindruck gewinnt, man könne solche atmosphärischen Dinge gewissermaßen selber machen….
Das „Medienzentrum „Lange Laube“ also, dieser hochtechnische, mit glatter Fassade versehene Raum und seine Galerie als Versuch, alles zu eliminieren, was eine atmosphärische Bedeutung haben könnte, ein Raum, in dem jeder Lichtschalter und jeder Stuhl und Gegenstand jenem Design angenähert ist, das immer nur sagt, ich bin nichts außer meinem Zweck, das in mir Ausgestellte optimal zu präsentieren – dieses Medienzentrum, das gewissermaßen ein sakraler Raum der Andacht für dasjenige ist, das in ihm aufgehängt, hingestellt und ausgestellt wird – dieses Medienzentrum und seine atmosphärische Botschaft wird also gewissermaßen durchbrochen von der atmosphärischen Botschaft einer Schultafel, dem Geruch nach Kreidestaub, den Assoziationen des Ausdrucks „lebenslänglich“ und der begrifflichen Zumutung eines „künstlerisch – wissenschaftlichen“ Projekts. Das ist vorerst alles, was ich atmosphärisch zu diesem ersten Ausstellungsort zu sagen hätte …
2. Ort: Katholische Hochschulgemeinde Hannover, Mehrzweckraum
Die Frage, ob ein Raum eine Atmosphäre hat, oder ob die Dinge im Raum diese Atmosphäre erst herstellen, ist nicht unbedeutend. Würde man sagen, ein architektonischer Raum habe eine Atmosphäre, dann müsste man folgerichtig fragen, was er denn als Gegenstand selber ist, außer einer quadratischen Hülle für irgend eine Einrichtung. Man müsste dann etwa nach seinen Wänden fragen oder seinen Fenstern, seiner Lage und Architektur. Die Moderne nun baut ja seit den 70iger Jahren tatsächlich jede Menge gesichtsloser Container für alle möglichen Zwecke, so dass sich heute etwa eine Universität von einem Krankenhaus kaum unterscheidet. Wenn Sie nach Berlin in die sogenannte „Rost- und Silberlaube“ kommen, einen metallverblendeten Container für ein paar tausend Studenten aus den 80iger Jahren, dann werden Sie der Anlage weder von innen noch von außen ansehen, ob es sich dabei um ein Krankenhaus handelt oder um eine Fabrik, ob die Gänge tagsüber von Professoren und Studenten oder von Ärzten und Patienten bevölkert sind. Man kann nun behaupten, dass solche architektonischen Gebilde gar keine Atmosphäre haben, bzw. dass sie immer ein und dieselbe Atmosphäre haben – eine maschinisierte Effektivitäts-Atmosphäre, in der jedenfalls kein „Geist“ herrschen kann außer eben dem Ungeist der Effektivität, egal wovon. Der große Postmoderne Marc Auge hat solche Orte einmal als „Unorte“ bezeichnet. Man könnte für diese poetische Umschreibung allerdings auch ein anderes Wort verwenden, und das hat die deutsche Sprache zur Verfügung gestellt. Ich meine den sogenannten Mehrzweckraum.
Der Mehrzweckraum ist eine Art Vorrichtung, man könnte fast sagen, ein architektonisches Gerät zur Hervorbringung von verschiedenen Atmosphären je nach Situation, Sinn und Nutzung. Man kann mithilfe dieses Geräts Atmosphären gewissermaßen herstellen, etwa indem man eine Bühne aufbaut und Stühle aufstellt – oder indem man einen Altar aufbaut und ein Kreuz aufstellt, oder indem man kleine Sitzkissen im Kreis anordnet und eine Selbsterfahrungsgruppe oder einen Bibelkreis abhält. In all diesen Fällen, stellt man – womöglich sogar mit den gleichen Gegenständen – verschiedene Atmosphären her – genauer – man stellt etwas her, das auf uns schon von anderswo bekannte Situationen hinweist nach dem Motto, – dieses Arrangement soll jetzt eine Kirche sein – dieses andere Arrangement soll jetzt eine Bildergalerie sein oder ein Besinnungsraum, usw.
Wir sagten, Atmosphäre sei der Atemkreis der Dinge. Verschiedene Dinge haben verschiedene Atemkreise. Die Atemkreise der Dinge in einem Raum können sich gegenseitig überschneiden, stören, auslöschen oder ergänzen. Daraus folgt, man kann die Dinge im Raum so anordnen, dass sie sich gegenseitig interpretieren und das Gesamtarrangement eine neue atmosphärische Bedeutung gewinnt. … In dem Roman „Die Wahlverwandtschaften“, der aus dem sogenannten Zeitalter der Empfindsamkeit stammt, gibt es eine Stelle, an der eine gewisse Charlotte einen Friedhof, der ansonsten vom Schlossherrn gemieden wird, weil er ein Ort des Grauens ist – mit Blumen schmückt. Durch die Blumen erhält der Friedhof etwas Tröstliches. Dabei mildern die Blumen nicht nur das Grauen, sie bringen vielmehr den Betrachter dazu, die Grabmonumente und damit den gesamten Ort in einem neuen Licht zu sehen. Der Schlossherr (Eduard) in Goethes Roman ist jedenfalls von Charlottes Arrangement so angetan, dass er plötzlich eine tiefe Übereinstimmung mit dem Universum und dem Kreis von Werden spürt. Er drückt Charlotten dankbar die Hand wie es heißt, und in seinem Auge steht eine Träne der Rührung.
Ein Mehrzweckraum, bzw. ein bauliches Gerät, das gelegentlich Partyraum, Andachtsraum oder Diskussionsbühne ist, kann uns – wie Charlottes Friedhof – zeigen, dass Atmosphäre nicht an den Gegenständen klebt, dass sie vielmehr ein Interpretationsmedium ist, etwas, das durch die Konstellation von atmosphärisch prominenten und weniger prominenten Gegenständen gewissermaßen in ständiger Erzeugung begriffen ist. Dabei „interpretieren“ sich die Gegenstände atmosphärisch gegenseitig: Solange das Kreuz da steht, gelten zwei zusammengestellte Tische vielleicht als Altar und die Bar ist vor allem Garderobe. Wenn das Kreuz weggeräumt wird, verwandeln sich die Tische, der Raum wird Festsaal und die Bar wird Bar. Natürlich wird die Atmosphäre dabei nie so „dicht“ sein wie in einer echten Kirche oder einer echten Bar. Vielleicht herrscht sogar nur die Atmosphäre einer recht treuherzigen Kopie einer Kirche oder einer Bar oder einer Ausstellung, aber genau dies zeigt doch, dass wir ein sehr feines Organ für Atmosphärische Schwingungen haben, einen Spürsinn, der sich nicht so leicht täuschen lässt.
Wie wir jetzt sehen, ist es vielleicht doch nicht ganz korrekt zu sagen, der Mehrzweckraum (für sich genommen) habe keine Atmosphäre. Vielleicht sollte man von Hyperatmosphäre sprechen oder von einer Atmosphäre des Nicht – Wirklichen, denn der Mehrzweckraum ist ja nicht einfach ein Gerät – er ist auch ein Raum, ein atmosphärisches Zwitterwesen sozusagen – oder noch besser eine Schule des Herstellens und des Interpretierens von Atmosphäre durch Arrangement. Im Mehrzweckraum kann man sozusagen Wirklichkeiten durch atmosphärisches Arrangement ausprobieren. Und hier wären wir dann ja auch wieder bei Ihrem Titel der Ausstellung, der auf unser „Lebenslänglich“(es) Verhältnis zur Wirklichkeit hinweist.
„Wirklichkeit“ ist, wie wir in der Philosophie sagen würden, nicht nur das Reich der Tatsachen und wahren Aussagen – das wäre der Gegenstand der Wissenschaft, die Wirklichkeit ist auch nicht nur das Reich der metaphysischen oder ontologischen Gewissheiten – das wäre in etwa der Gegenstand der Theologie. Die Wirklichkeit ist vielmehr das, was „wirkt“ – also Wahrheit und Lüge, Sein und Schein, die Dinge und ihre Schatten, der Irrtum und die Macht. – Kunst und Philosophie haben im Unterschied zu Theologie und Wissenschaftstheorie die Wirklichkeit zum Gegenstand. Darin sind sie Schwestern. Daher rührt auch die Feindschaft der Wissenschaftstheoretiker zur Philosophie, denn Wissenschaftstheoretiker möchten am liebsten haben, dass nur Wissenschaftstheorie als Philosophie zählt und alles andere als eine Art Romaneschreiben, was allerdings auch wieder eine fragwürdige Ansicht sein dürfte. Dass im Mehrzweckraum nichts wirklich „wirklich“ ist, lehrt uns etwas über die Wirklichkeit selbst, weswegen sowohl Kunst als auch Philosophie im Mehrzweckraum mitunter ganz gut aufgehoben sind …
3. Ort: Hl. Kreuzkirche, Hannover
Die „Wirklichkeit“ der Religion, das heißt, die Art und Weise, wie sie wirkt, besteht darin, uns die Berührung des vorgeblich Unberührbaren und den Umgang mit dem Heiligsten durch Symbolisation, Kultus und Ritus erst zu ermöglichen. Darauf hat nach Otto erst neuerdings wieder Giorgio Agamben hingewiesen. Deswegen hat die Kirche auch mit dem Tod zu tun. Der Tod, speziell der Leichnam, hat eine sehr starke, für das naive Bewusstsein grauenerweckende atmosphärische Wirkung. Auch nur in die Nähe eines Toten zu gehen, kostet Überwindung. Wir müssen uns die ursprüngliche atmosphärische Wirkung von Leichen als so stark vorstellen, dass es gewissermaßen eine heroische priesterliche Leistung war, den Leichnam zu berühren, zu bewegen, ihn zu bestatten usf.. Kultur und Totenbestattung gehören anthropologisch zusammen. Religionen beginnen historisch als Totenkult, und sie bleiben Totenkult, auch nachdem die Götter längst geboren sind. Ja selbst unter der Vorstellung noch abstraktester Gottheiten bleibt die Religion der Umgang mit Leichnamen, und „Kirche“ bleibt in vieler Hinsicht über Jahrhunderte die Institution dieses Umgangs. Diesen Vorgang als atmosphärische Kunst zu interpretieren, hat zugegeben noch keiner vorgeschlagen, aber ich tue es hier versuchshalber.
Ich behaupte dazu, das „Heilige“ hat ursprünglich mit dem Tod zu tun, bzw. mit seiner atmosphärischen Uminterpretation. Ich will versuchen, dies plausibel zu machen. Die ehemalige Herstellung von „Heiligen“ etwa innerhalb der katholischen Kirche ist ein gutes Beispiel. Ein „Heiliger“ ist nämlich zunächst einmal nichts anderes, als ein atmosphärisch stark wirkendes transportables Artefakt, das aus der Leiche eines bedeutenden Menschen durch Balsamierung hergestellt wird und das durch seine atmosphärische Wirkung die Heiligung eines zunächst profanen Raumes bewirkt, etwa dadurch, dass der Heilige mit seinem toten Körper hilft, einen Kult zu entwickeln.
Seinen eigenen Leichnam im 18. und auch noch 19. Jh. der Anatomie zu überantworten, war eine Art heroischer Tabubruch von Männern wie Darwin oder Benjamin Franklin, die damit eine Macht in Frage stellten, jene Macht nämlich, die damit verbunden ist, die Toten zu beerdigen, über die Toten zu wachen und das Sterben zu begleiten. Es war die Macht der Kirche, bzw. das damit verbundene Vorrecht des Umgangs mit dem Leichnam, und es ist interessant zu bemerken, dass die Heiligen der Katholischen Kirche in dem Moment seltener werden, in dem die akademischen Helden, Professoren und Doktoren gewissermaßen an Zahl zunehmen. Doch sehen wir in vorreformatorische Zeiten zurück. Es ist sicher nicht zuviel gesagt, wenn man behauptet, die Heiligen der katholischen Kirche waren Leichen, die zum Teil im Ganzen, zum Teil in Stücken dazu dienten, atmosphärisch zu Andachts- und Kultzwecken eingesetzt zu werden. Etwa mit dem Leichnamstransfer – also der von der katholischen Kirche vorgeschriebenen zweimaligen Umbettung eines prospektiven Heiligen und der dazu stattfindenden Prozession konnte man den Kult gewissermaßen von Ort zu Ort transportieren. Der Abt Guido von Pomposa etwa wurde nach seinem Tod von Heinrich II über die Alpen gebracht und in Speyer neu beigesetzt. Um sein Grab entstand auf diese Weise die von Pomposa inspirierte Kultur: Das Muster dieser Kulturentstehung kann man als ein System von Sphären beschreiben: Um die Reliquie im Sarkophag wird ein Schrein gebaut, um den Schrein entsteht ein Andachtsraum, etwa eine Kirche. Um die Kirche entsteht ein Kloster. Um das Kloster entstehen Schulen. Das Handwerk siedelt sich an, Dörfer, eine Stadt entstehen, Politik baut sich auf … – kurz, es kommt zu einem Stück „Kultur“, in deren Mitte nach wie vor der Schrein des Heiligen ruht … Die Kultur des Mittelalters ist die Geschichte einer Kultur solcher atmosphärischen Akte und müsste eigentlich historisch einmal so aufgeschlossen werden, ich glaube, das wäre interessant.
Was man damals herausbrachte, bzw. in der Praxis anwandte, war die Erkenntnis, dass man durch Zerteilung des Leichnams seine atmosphärische Wirkung vervielfältigen und den Kult ausbreiten konnte. Der atmosphärische Kern war nach der Aufteilung etwa die Hand eines Heiligen, seine Hirnschale, ein Fußknochen usf. . Eine reiche Gemeinde oder ein König konnte sich den ganzen Leichnam leisten, eine sehr arme Gemeinde bekam dann vielleicht auch schon mal nur noch eine hölzerne Kopie von einer Hand ab, aber offenbar wirkten selbst solche Reste (Reliquien) noch atmosphärisch. Mit dem Verfahren der Herstellung, des Transfers und der Zerteilung von Heiligen hat die katholische Kirche über rund 1500 Jahre außerordentlich erfolgreich „Kultur“ implantiert. Sie war mit dieser Methode womöglich die erfolgreichste Kraft der Kulturschaffung und des Kulturtransfers, die wir in Europa kennen. Das Verfahren war also keineswegs ein Irrtum oder gar Geldmacherei, wie die reformatorischen Autoren meinten (Die Reformation war auch nicht die Beseitigung eines Irrtums, sondern der Austausch eines Mediums: – nicht mehr Heiligenprozessionen und Leichenteile, sondern Schriftexegese und Bibeldruck sicherten von nun ab den Kulturtransfer, wozu die Bibel allerdings in die Landessprachen übersetzt und tausendfach gedruckt werden musste, was seit Gutenbergs beweglichen Lettern möglich war!) – es war die Erkenntnis der atmosphärischen Kraft des Leichnams und seines Relikts. Hier in diesem Raum ist der Hinweis deswegen so wichtig, weil er – ob protestantisch oder nicht – natürlich wenig mehr ist, als der atmosphärische Vorschein des Himmels, in dem alle Toten und alle Lebendigen beieinander sind und „bei Gott“ geborgen sind.
Anders ausgedrückt also – die Atmosphäre einer Kirche beansprucht eine All-Einheit von Tod und Leben, ein Beieinandersein von Lebendigen und Toten – verbunden durch Ritus, Musik, Gesang und Gebet – aber auch durch echten Kontakt mit den Toten! In den mittelalterlichen Sarkophagen etwa war ein Loch gelassen, damit die Verwesungsluft des Leichnams wahrgenommen werden konnte. Die Gläubigen steckten ursprünglich eine Hand oder einen Finger in diese Löcher, um dem Athmos des heiligen Toten nahe zu sein, eine Praxis, die in Europa erst mit der Pestzeit verboten wurde. Die Löcher wurden verschlossen, ersatzweise wurden bestimmte Stellen der Sarkophage geküsst oder wenigstens berührt usw.. Bitte bedenken Sie, dass die Kirche der Versammlungsraum der Gemeinde war, und zwar nicht nur, wie heute vielleicht ein Rathaus oder im Medienzeitalter die Fernsehpannels der Politiker und Publizisten, sondern einer Gemeinde, die die Toten mit einschloss, jener Toten, deren Reste hier nicht nur lagerten, sondern auch symbolisch überhöht wurden. Die Vergangenheit „haucht“ uns hier also an. Hier „weht“ sozusagen die Luft eines Ineinanders von Tod und Leben, hier reihen sich die Vorbilder der Geschichte und passen sich atmosphärisch in den architektonischen Raum – und von hier weht dieser Hauch hinaus in die politische Wirklichkeit. – Ich bin sicher, jeder von Ihnen war schon einmal in der Westminster Abby. Dort ist dieses Prinzip weit über den Kult der katholischen Kirche ins Protestantische hinein beibehalten und erweitert worden, wie übrigens auch in Frankreich. Die 3000 Gräber in Westminster, die Dichter, Wissenschaftler, Feldherren und Staatslenker haben bis heute eine schier unerklärliche atmosphärische Wucht, die die atmosphärische Wucht eines Einzelkunstwerkes – Sie verzeihen mir diesen Hinweis – natürlich grandios überragt. Hier in dieser Kirche können Sie sich mit Ihren Arbeiten bestenfalls anschmiegen, sie können etwa im olfaktorischen Bereich arbeiten und Duftampeln aufhängen, Sie können ein Knochenmal errichten usw., aber Sie werden immer weit hinter den Vorgaben zurückbleiben, denn Sie haben hier das Gegenteil eines „White Cube“, also einen atmosphärisch hochgeladenen Raum, in dem ein einziger Steinbrocken atmosphärisch mehr wiegt als alles, was Sie hier meinen und machen und hereinschleppen können, es sei denn – Sie schleppen einen Toten herein. –
Ich danke ihnen fürs Zuhören.